“Torisashi no Kon” und die Handlungsanweisung in der Form “Text plus Bild”

Wie in meinem kürzlichen Artikel beschrieben, entstammt Torisashi Ume no Kon der okinawanischen Tradition eines gewissen Kina Masanobu.

Zu dem Zeitpunkt, als ich den Artikel schrieb, lagen mir nur sehr wenige Informationen vor. Zuerst hatte ich über eine weitere Person eine knappe Information aus Okinawa erhalten, die lediglich aus dem Namen der kata sowie einer Genealogie der Überlieferung stammte. Mit dieser Information gelangte ich dann zu einer zugehörigen Bildquelle aus einem japanischen Buch, von dem ich allerdings nicht wusste, woher genau dieser stammte. Es zeigte lediglich den Text ohne Seitenzahl, Name des Autors, Name des Buches, des Verlags, oder des Jahres der Veröffentlichung.

Ferner lokalisierte ich zwei Videos der kata. Das erste Video zeigte Kina Masanobu selber beim Vorführen der kata, das zweite Video zeiget Robert Teller aus den USA, der die kata in den 1970ern auf Okinawa von Kina Masanobu gelernt hatte.

Und dann habe ich natürlich so, wie man das so macht, geguckt, wo kommt das Buch her, was ist der Titel, und habe international Freunde und Bekannte dazu kontaktiert. Schlussendlich erhielt ich dann tatsächlich die entsprechenden Seiten dieses Buches von einem Kollegen aus den USA, der in Besitz dieses Buches ist, als einziger, den ich kenne, und der auch als einer der wenigen in den etwas unbekannteren Schulen des kobudō unterwegs ist, also sich in den weniger standardisierten und verbreiteten Schulen auskennt. Damit hatte ich dann also eine Beschreibung, wie die kata überliefert worden ist, den Charakteristika der kata und einer detaillierten Beschreibung der Techniken der kata in der Form Text plus Bild.

Text plus Bild heißt, jede einzelne Bewegung ist im Text beschrieben, Punkt 1 bis x, und weil halt in den Büchern in den 70er und 80er Jahren nicht so viel Platz war, und weil zu jener Zeit das Veröffentlichen von Büchern etwas schwieriger war als heutzutage, auch wegen der Bearbeitung von Grafiken usw., sind dort vielleicht so 15 Fotos mit dabei, die dann jeweils einer der Textbeschreibungen zugeordnet sind. Manchmal sind die Fotos auch unterteilt in a, b und c, um den Ablauf einer einzelnen Bewegungssequenz besser zu veranschaulichen.  

Aus didaktischer Sicht kann man sagen, dass die Instruktionsform „Text plus Bild“ natürlich bereits seit langer Zeit internationaler Standard ist. Dies gilt vor allem auch für den militärischen Bereich, wo sich Text-plus-Bild-Anleitungen seit Jahrhunderten finden, aber auch andere technische Bereiche bedienen sich seit langem dieser Methode.

Weltweit sieht man natürlich die Entwicklung der Handlungsanweisung in Form von „Text plus Bild“ bereits früh, so auch in Europa, und hier ganz speziell in dem Corpus der sogenannten Fechtbücher, die sich als Monografien ausschließlich mit dem Kampf beschäftigten. Dies Form der Handlungsanweisung entstand etwa um 1300 und entwickelte sich bis zum 17. Jahrhundert immer weiter zu eigenständigen Kunstwerken, mit teils erheblichem künstlerischem Aufwand und Ausdruck in Kalligraphie und Malerei. Dabei handelte es sich um aufwändige Publikationen, denn man brauchte jemanden der kämpfen kann, jemanden der schreiben kann, und jemanden der zeichnen oder malen kann, und so finden sich häufig Widmungen an die Förderer solcher Veröffentlichungen in den Vorblättern. Es war darüber hinaus notwendig, dass die Zielgruppe lesen konnte, und die Bebilderung erleichterte das Verstehen; eine Erkenntnis, die noch heute im Bereich der technischen Handlungsanweisungen vollumfänglich gültig ist, aber auch und vor allem in allgemeinen technischen Produkte; denken Sie nur an IKEA, ihre Waschmaschine, die Fernbedienung, oder einen Kaffeeautomaten: ohne Bilder geht gar nix. Ohne Text meist aber auch nicht.

Als Eckpunkte in der Entstehung kann man hier das Süddeutsche „Ms. I.33“ nennen (um 1300), Codex Wallerstein (späteres 15. Jahrhundert), die Sammlung des Paulus Hector Mair (16. Jahrhundert), sowie die im 16. Und 17. Jahrhundert folgenden französischen und italienischen Fechtschulen.

Vor allem seit der Meiji-Zeit finden sich japanische Anleitungen zum Schwert, Bajonett, usw., aber auch des jūjutsu vor allem im Zusammenhang mit Übungen des Militärs oder der Polizei. Eine frühe, bildliche Darstellungen des kendō und dessen der Ausrüstung, des sōjutsu, ninjutsu, Bogenschießen und einiger Techniken des torite findet sich in Band 6 von Hokusai Katsushikas Manga-Serie aus dem frühen 19. Jahrhundert, aber dies ist keine reine Instruktion, sondern lediglich eine Sammlung von Szenen. Zu den bekannteren Werken, die komplexere Handlungsanleitungen der Form „Text plus Bild“ enthalten gelten sicherlich die chinesischen Werke Jixiao Xinshu (späteres 16. Jahrhundert) und das Wubeizhi (früheres 17. Jahrhundert), sowie verschiedene, daran angelehnte Formate aus Japan.  

Wenn man jetzt also zum Beispiel im Bereich des Okinawa Karate nachschaut, dann findet man „Karate Kumite“ von Hanashiro Chōmo aus dem Jahr 1905. Dabei handelte es sich um eine Handschrift ohne Abbildungen, also um reinen Text. Text und Bild im Zusammenhang mit Karate findet sich nach derzeitigem Kenntnisstand erstmals in Funakoshis Buch von 1922, wobei diese Ausgabe noch Text plus Zeichnungen verwendete, die drauffolgenden Ausgaben ab 1925 dann aber Text plus Fotos enthielten. Kurz darauf kamen dann Bücher mit Text und Fotos von Motobu 1926 und 1933, Miki Nisaburō 1930, Mabuni in den 1930ern, Itoman Masanobu, Karate-dō Taikan von Nakasone 1938 und andere, die alle Text plus Foto und teilweise Zeichnungen verwendeten. 1940 entstand Ryūkyū no Fūbutsu (Scenes and Customs of Ryūkyū), der nach derzeitigem Kenntnisstand erste Film, der Szenen des Karatetrainings in Okinawa zeigte. Dabei handelte es sich allerdings nicht um einen Lehrfilm, also nicht um eine Handlungsanweisung.

Während die Handlungsanweisung mittels Text plus Bild in Form von Büchern bis heute weitergeführt wird, kam es entlang der technologischen Weiterentwicklung im Bereich Film und Video vermehrt zu Videos, die zuerst oft privat erstellt, aber etwa ab den 1980ern in größerem Umfang auch kommerziell verfügbar gemacht wurden, als CDs und DVDs, dazu kam das Internet, dann kamen Streaming-Plattformen, und heute ist es halt Standard, dass man eigentlich bewegte Bilder hat und irgendjemand dann dazu eine Erklärung abgibt. Das heißt, wir haben hier die Form gesprochenes Wort plus bewegte Bilder. Dazu kommen weitere technologische Entwicklungen, die für die Allgemeinheit nur in begrenztem Maße zugänglich sind, aber in Zukunft eine größere Role spielen werden, wie Augmented Reality und Virtual Reality. Zu nennen ist hier „Ryukyu Robots,“ ein Projekt von Dr. Hagen Walter, der verschiedene Karate– und Kobudō-Bewegungen oder ganze kata und sogar Zweikampf mit einer Robotersimulation durchführt.

Das heißt aus didaktischer Sicht, aus der Perspektive der medialen Informationsübermittlung, sehen wir hier die Entwicklung von persönlicher Unterweisung, wie es sie zweifelsohne seit Menschengedenken für verschiedene Lebensbereiche gab, hin zu Text, Text plus Bild, Text plus Fotos, und schließlich hin zu dem gesprochenen Wort plus bewegten Bilder sowie interaktiven Medien.

Um zu der Beschreibung von Torisashi no Kon zurückzukehren: Nachdem ich also die Seiten aus dem Buch erhalten, den Text abgeschrieben und wegen der teilweise ungewöhnlichen Terminologie teilweise mit Unterstützung von Muttersprachlern übersetzt und die Fotos optimiert habe, und zwischenzeitlich eine Ausgabe des Buches lokalisiert und in Japan bestellt habe, habe ich nun damit begonnen, die detaillierte Beschreibung mit den vorliegenden zwei Videos abzugleichen. Daraus lassen sich wiederum einige neue Details entnehmen und genauere Informationen zur Ausführung und Bewegungsbedeutung ableiten.

© 2022, Andreas Quast. All rights reserved.

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