Was soll das heißen? – Terminologische und technische Implikationen des Nagahama Bō

Eine Terminologie bezeichnet die „Gesamtheit der in einem Fachgebiet üblichen Fachwörter und -ausdrücke“ oder einfach „Nomenklatur.“ Innerhalb der Entstehung von Karate- und Kobudō-Terminologien gibt es einige Punkte zu beachten. Erst einmal entwickelten sich die modernen Karate- und Kobudō-Terminologien erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Genauer gesagt begann die Entwicklung verschiedener Fachtermini langsam und fragmentarisch in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, und zwar in Anlehnung an das Vorbild der japanischen Budō-Disziplinen. Richtig ausgearbeitet wurden solche Karate- und Kobudō-Terminologien jedoch erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus wurden zahlreiche verschiedene Terminologien entwickelt, zum Beispiel in einzelnen dōjō, in einzelnen Stilrichtungen, in kleineren Verbänden bis hin zu nationalen und internationalen Sportverbänden. Meister X hat vielleicht bereits 1930 angefangen, Hauptkategorien von Techniken mit Namen zu versehen, um besser unterrichten zu können. Meister Y hingegen fing vielleicht erst 1985 an, eine Terminologie auszuarbeiten, um so Techniken zu standardisieren und für Prüfungen nachvollziehbar und eineindeutig festzulegen.

Der entscheidende Punkt, auf den ich hier hinweise, ist, dass in diesen modernen Terminologien meistens die Bewegung der Waffe im Kobudō bzw. das ausführende Körperteil und dessen grobe Zielregion – unten, mittig, oben – angegeben.

Beispiele hierfür sind:

  • Shomen-uchi: Schlag nach vorne
  • Jōdan-uchi: Schlag zur oberen Höhenstufe
  • Furi-age-uchi: aufwärts geschwungener Schlag
  • Kagi-zuki: Hakenstoß
  • Ura-uchi: Rückhandschlag
  • Chūdan-zuki: Stoß zur mittleren Höhenstufe
  • Hiza-geri: Kniestoß
  • Nuki-zuki: gleitender Stoß
  • Tettsui-uchi: Hammerfaustschlag
  • Ippon-ken: Einfingerknöchelstoß
  • Empi-uchi: Ellenbogenstoß
  • usw.

Kurzum: Über die Terminologie alleine sind Zweck und Ziel einer Technik nicht definiert.

Nun, wie wohl in jeder anderen Alltagssprache auch finden sich im Deutschen zahlreiche Redewendungen, in der das Ziel eines Angriffs genau definiert wird:

  • auf’s Maul hauen
  • auf die Nase hauen
  • auf’s Auge hauen
  • in die Eier treten
  • ein blaues Auge verpassen
  • einen Leberhaken versetzen
  • einen Kinnhaken verpassen
  • vor den Kopf hauen
  • auf die Zähne hauen
  • in den Magen schlagen
  • eine Ohrfeige verpassen

und es gibt zahlreiche bildsprachliche Ausdrücke wie „umhauen“, „Blut am Schuh!“ (Ah, Entschuldigung, das ist vom Fußball), „Gleich klatscht es!“ usw.

Anders als in den modernen Karate- und Kobudō-Terminologien handelt es sich dabei also hauptsächlich um Zielangaben.

Im Karate wurden ursprünglich auch Zielangaben verwendet, wie ich vor einigen Jahren am Beispiel des Begriffes Kasumi beschrieb:

Recently I read about Motobu Choki using the archaic term “kasumi-uchi” instead of the modern “haishu-uchi” for a specific technique in Naihanchi. It is said that Itosu changed this to “haito-uke” (ridge hand block). Both haishu-uchi as well as haito-uke refer to the body-part used to perform the technique. Kasumi-uchi, on the other hand, uses the name of the target to label this technique. This is an extremely interesting point.

Es gab im Karate und Kobudō also eine terminologische Kehrtwende im 20. Jahrhundert, für die im Übrigen zahlreiche weitere Beispiele existieren. Hier reicht es jedoch zu verstehen, dass im Unterschied zu den modernen Karate- und Kobudō-Terminologien die ursprünglichen Techniken ebenfalls durch relativ genaue Zieleangaben am gegnerischen Körper gekennzeichnet waren. Ein Beispiel dafür finden wir im Nagahama Bō.

Nagahama Bō bezeichnet ein traditionelles Stockfechten aus Nagahama im Dorf Yomitan. Es handelt sich um ein sogenanntes Mura-bō oder Dorf-Stockfechten welches vor etwa 200 Jahren während der Zeit des Ryukyu-Königreichs entstanden sein soll, also um die 1820er Jahre. Seit ca. 2009 oder 2010 gab es keine Aufführungen mehr aber im Juli 2019 versammelten sich der Jung-Männer-Verein (Seinenkai), der Kinder-Verein, die Trainer und wichtige ehemalige Mitglieder im Gemeindezentrum zum Zwecke der Wiederbelebung des Nagahama Bō.

In dieser Stockfechttradition gibt es insgesamt dreizehn Kata, die alle von zwei Personen ausgeführt werden. Das heißt, es handelt sich ausschließlich um sogenanntes Kumi-bō, oder Stockfechten mit dem Partner. Aus diesem Grunde gestaltet sich die Überlieferung schwierig, denn ohne Partner ist es nicht möglich, diese Kata aufzuführen. Der praktische Ansatz zeigt sich auch in der Bezeichnung „Ikusa Bō“, die für Nagahama Bō verwendet wird: Ikusa Bō 戦棒 bedeutet Stockfechten für den echten Kampf, Gefechtsstange, Schlachtenknüppel, usw. Es handelt sich dabei also um ein seit relativ langer Zeit regional überliefertes, praktisch inspiriertes Stockfechten.

Im Nagahama Bō gibt es eine Technikliste, das heißt eine Terminologie. Diese Terminologie verwendet zahlreiche Begriffe, die wie aus der folgenden Liste ersichtlich das Ziel des Angriffs relativ genau definieren (siehe: Entire Story: Nagahama Bō, 25. Februar 2021, Minute 14:15):

  • Ūwāi (Stelle zwischen den Augenbrauen)
  • Ashijiri (Bein schneiden)
  • Fusunuchi ([die Region] um den Nabel schlagen)
  • Īmāsa (auf Schritt und Tritt folgen; nachfolgen)
  • Kajichiri (zum Kopf/Hals schlagen)
  • Ubi-kiri (zur Taille schlagen)
  • Ura-uchi (von links nach rechts gegen den Kopf/Hals schlagen)
  • Chichidī (in die Magengrube stoßen)

Anhand dieser Liste wird deutlich, wie geeignet solche Zielangaben für die praktische Anwendung sind.

Daraus ergeben sich natürlich zahlreiche weitere Fragen: Ist die individuelle Kata – das heißt, von einer Person aufgeführte Kata – aus der Not entstanden, dass nicht immer ein Partner zur Verfügung steht? Gab es auch im Karate und Kobudō einst hauptsächlich Partnerformen, und was passierte mit diesen? Wurden die Partnerübungen des Karate und Kobudō, die heute überall zu sehen sind, ebenfalls erst im 20. Jahrhundert neu entwickelt, während die originalen Partnerübungen verloren gegangen sind? Das heißt, verhält sich die praktische Anwendung des modernen Karate und Kobudō analog zum Prozess der Terminologie, das heißt, Verlust und Neuschaffung?

Ein weiterer bedeutsamer Punkt ist der folgende: Im Nagahama Bō wird die Person Tsuken Hantā-gwā als Überlieferer genannt, sowie Kata-Namen wie Tsuken Bō, Sunakake Bō und andere. Das sind berühmte Namen im modernen Kobudō, aber im Kobudō ist nichts über deren Herkunft bekannt. Das heißt, es besteht hier die Möglichkeit, dass sich die modernen Traditionen des Okinawa Kobudō tatsächlich aus solchen Dorf-Stockfechtmethoden speisten und entwickelten, und zwar erst im 20. Jahrhundert, und unter dem Einfluss japanischer Pre1945-Budō-Kultur und -Ideologie, was sich in der unterschiedlichen Kleidung, Sprache und Terminologie, der Trainings- und Aufführungsorte, des typischen Aufführungsumfelds und -gelegenheiten, Musikbegleitung usw. zeigt. Und wenn dem so ist, wieso wurden Okinawa Kobudō dann fast ausschließlich über Individual-Kata überliefert, im Gegensatz zur Partnerarbeit? Denn abgesehen von ein paar Kleinigkeiten sind kombative Anwendung im Okinawa Kobudō eher eine Ausnahme gewesen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt in Mode kam. Ist der exponentielle Zuwachs an neu abgeleiteten oder entwickelten Anwendungen zumindest teilweise auch ein direktes Resultat der stetig ansteigenden Kopfzahl in Karate- und Kobudō-Schulen, und nicht etwa originaler Inhalt, sondern Produkt der Verfügbarkeit von Übungsstätten, der Massenmedien, elektronischer Kommunikationsmittel, Reisemöglichkeiten, der verlängerten Freizeit und finanzielle Unabhängigkeit vieler Menschen, der relativ friedlichen Zeit, der riesigen Summen an Steuergeldern die Regierungsbüros in alle möglichen Marketingmaßnahmen stecken, der Heldenepen Hollywoods, der persönlichen Sinnsuche usw., und damit also ein direktes Resultat der stetig ansteigenden Kopfzahl an verfügbaren Trainingspartnern? Im Nagahama Bō jedenfalls wie wahrscheinlich auch in anderen Dorf-Stockfechttraditionen Okinawas scheint es eben genau der Mangel an verfügbaren Trainingspartner zu sein, der die weitere Tradierung in Gefahr brachte.

Es gibt also nicht nur zahlreiche Punkte, die in diesem Zusammenhang behandelt werden sollten, sondern auch solche Hinweise, die gegebenenfalls eine Neudefinition des Selbstnarrativs okinawanischer Kobudō-Kreise erforderlich macht.

© 2022, Andreas Quast. All rights reserved.

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