Wallerstein Codex, fol. 15r und 15v: Einleitung zum Ringkampfbuch

Die erste Lehre vom Ringen

Präge dir nun ein, dass zum Ringen drei Fertigkeiten gehören:
1. Stärke (Bedeutung: Kraft, Gewalt, Tapferkeit),
2. Maß (Bedeutung: die angemessene Aktion und Reaktion in dynamischen Situationen) und
3. Behändigkeit (Bedeutung: Gewandtheit, Klugheit, Eifer, Kunstfertigkeit, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Fertigkeit, Geschicklichkeit, Schlauheit, List).

Um die Stärke zu nutzten, senkt jeder seinen Körperschwerpunkt ab in die Position der Waage und stellt sich fest auf dem Boden auf.

Maß bedeutet, dass du es verstehst, deine Hände und Füße in allen Positionen geschickt einzusetzen, wie du es in Folge hier in guter Form lernen wirst.

Behändigkeit bedeutet, dass du dich wohl vorsiehst, dir alle Hintertritte (ein Bein so positionieren, das der Gegner in seiner Bewegungsfreiheit gestört, behindert, gehemmt, oder zu Fall gebracht wird), Ziehen (Zucken; schnell und mit Gewalt ergreifen und sich reißen) und Stoßen (Stöße, Schubser und Schläge, mit Anprall treffen), und Armbrüche (Sammelbegriff für Knochenbrüche und Gelenkverletzungen) gut einprägst, um all diese sogleich / unerschrocken abwehren zu können, und dass du dich stets schwer machst und deinen Körperschwerpunkt in die Position der Waage absenkst.

Die zweite Lehre vom Ringen

Auch sollst du wissen, dass du gegen jeden schwachen Gegner mit Stärke vorringen sollst (zuvorkommen, angreifen), und gegen einen gleichstarken Gegner mit Maß mitringen sollst (gleichzeitig), und gegen einen starken Gegner mit Behändigkeit nachringen sollst (ihn angreifen lassen). Wenn du also mit einem Schwachen ringst, so brauchts du dir keine Sorgen vor ihm zu machen, solange du Maß und Behändigkeit besitzt und dich fest in die Waage setzt. Was du dann probierst, sei es Zwirchstellung oder Blöße (Öffnung anbieten), Armbrüche, Kampfstücke, Mordstücke oder andere Stücke, so wird er diese nicht leicht abwehren können, es sei denn, indem er sich dir entzieht oder dir ausweicht.

Ringst du dann mit einem gleichwertigen Gegner, so sieh auch zu, das du dich gut in acht nimmst vor Zucken, Hintertreten und Armbrüchen und vor anderen Täuschungsmanövern; Tu dies, indem du dich stets in die Waage setzt und mit Stärke mit Maß finden lässt und dich jederzeit schwer machst gegen ihn und ihn abarbeitest, und danach kannst du ihn mit Behändigkeit übereilen mit Maß.

Die dritte Lehre vom Ringen

Ringst du mit einem starken Gegner, dann schütze dich da, wo er dich angreift oder anfällt, und sieh zu, dass du dich fest niedersetzt (Schwerpunkt absenken) und ihm seine(n) Arm(e) mit dem Bärenstoß ausstößt oder auch mit anderen Stücken ausbrichst und allgemein, dass du viel vor ihm ausweichst. Und versuche, ob du ihn mit Behändigkeit verleiten und übereilen kannst; dass du einen seiner Füße erwischst oder ansonsten unter ihn trittst, so dass du in wirfst, wie du dann ihn mehreren Stücken und Brüchen hiernach in Zeichnung und Text finden wirst.

Weiteres als Vorrede

Ein jeder schwacher Ringer ist im Ernstkampf jedoch einem starken gleichwertig, wenn er es versteht, Behändigkeit und Maß, Kampfstück und Mordstück zu seinem Vorteil einzusetzen. Beim Gesellenringen jedoch ist der starke stets im Vorteil. Doch für alle diese Dinge (die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten) wird die Kunst (des Ringens) von Rittern und Knechten gelobt.

Es folgt das erste Stück.

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