Die Karate- und Kobudo-Vorführung im Jahr 1964 und die Bedeutung von Kulturgut

Die im folgenden verwendete Quelle wurde von Herr Kyan Morikazu (Mitglied des Bunbukan) sowie von Herr Motobu Naoki (Motobu-ryū) recherchiert und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Am 8. August 1997 erklärte die Präfektur Okinawa Karatedō und Kobudō als immaterielles Kulturgut und designierte gleichzeitig drei Träger dieses Kulturgutes. Seitdem wurden regelmäßig weitere Träger designiert. Hier ist die gesamte Liste bis jetzt:

  • 1997: Nagamine Shōshin, Yagi Meitoku, Itokazu Seiki
  • 2000: Iha Koshin, Tomoyose Ryūkō, Nakazato Shugorō, Nakazato Jōen, Miyahira Katsuya, Wakugawa Kōsei.
  • 2013: Ishikawa Seitoku, Uehara Takenobu, Hichiya Yoshio, Nakamoto Masahiro, Higaonna Morio.
  • 2020: Takara Shintoku, Iha Seikichi, Nakahodo Tsutomu, Iha Kōtarō, Maeshiro Morinobu, Kikugawa Masanari.

Was aber bedeutet Kulturgut und wann begannen die Aktivitäten dazu in Okinawa?

Am 30. Mai 1950 wurde das japanische „Gesetz zum Schutz von Kulturgütern“ erlassen. Zweck dieses Gesetzes war es, Kulturgüter zu erhalten und zu versuchen, diese aktiv nutzbar zu machen. Die Leitlinie dabei ist es, einen Beitrag zum kulturellen Fortschritt des japanischen Volkes sowie zur Entwicklung der Weltkultur zu leisten (Artikel 1). Der japanische Staat bewahrt, verwaltet, schützt, subventioniert und nutzt diese Kulturgüter aktiv.

Abschnitt 1 definiert Kulturgut als Bauten, Malerei, Bildhauerei, Kunsthandwerksarbeit, Schriften, Handschriften, Bücher, antike Dokumente, volkstümliche Materialien und andere materielle (greifbare) kulturelle Produkte, die für Japan von hohem historischem oder künstlerischem Wert sind, sowie archäologische Materialien. Diese werden „materielles Kulturgut” genannt.

Abschnitt 2 definiert Kulturgut als Theater, Musik, handwerkliches Können und andere immaterielle Kulturgüter, die für Japan einen hohen historischen oder künstlerischen Wert besitzen. Diese werden „immaterielles Kulturgut“ genannt.

Abschnitt 3 definiert Kulturgut als historische Stätten, Orte von landschaftlicher Schönheit sowie Naturdenkmäler (z. B. Landschaft, Pflanzen, Tiere). Diese werden „historische Stätten und Naturdenkmäler“ genannt.

In Okinawa entwickelte sich die Kulturgutverwaltung wie folgt.

Vor der Schlacht von Okinawa (1945) waren die Haupthalle der Burg Shuri sowie dreiundzwanzig weitere Gebäude in zwölf Gebäudekomplexen durch Gesetze wie dem Gesetz zur Erhaltung von Nationalschätzen (1929) als Kulturgüter designiert und erhalten worden. Während der Schlacht von Okinawa (1945) brannten die meisten Kulturgüter nieder, einschließlich der als Nationalschatz designierten Gebäude.

Aufgrund der administrativen Trennung von Japan gab es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Okinawa keine gesetzlichen Maßnahmen in Bezug auf Kulturgüter. Allerdings bemühten sich einige private Organisationen um den Erhalt der verbliebenen Kulturgüter. Als Reaktion auf den starken politischen Druck durch diese privaten Organisationen erließ die Legislative der okinawanischen Selbstverwaltungsregierung während der amerikanischen Besetzung am 29. Juni 1954 das „Gesetz zum Schutz von Kulturgütern“.

Im selben Jahr folgte die Einrichtung des „Ausschuss für den Schutz von Kulturgütern“ als externe Einrichtung des Bildungsbüros sowie des „Sonderrat für Kulturgüter“ als beratendes Gremium und man begann mit der Designation und dem Erhalt von Kulturgütern in Okinawa.

Am 15. Mai 1972 erlangte Japan die Souveränität über das Gebiet von Okinawa wieder. Mit der Reversion wurde ein Kulturdezernat als Teil der örtlichen Schulbehörde eingerichtet und alle Aufgaben der Kulturgutschutzverwaltung einem „Komitee für den Schutz von Kulturgütern“ übertragen.

Im Rahmen einer “Schwerpunktwoche zum Schutz der Kulturgüter” fand am 3. November 1964 in der Sporthalle der Fachoberschule für Wirtschaft in Naha eine Gedenkfeier anlässlich des 10. Jahrestages des Inkrafttretens des okinawanischen „Gesetz zum Schutz von Kulturgütern“ statt.

Bei der Zeremonie sagte der Vorsitzende Miyazato Eiki:

„Wir, die gesamte Gesellschaft [Okinawas], müssen die einzigartige Vielfalt traditioneller okinawanischer Kulturgüter schützen, pflegen und nutzen.”

Im Anschluss an diese Gedenkfeier führten verschiedene Meister Inhalte aus vier Fachbereichen vor: klassische Ryūkyū Musik, Ryūkyū-Tanz, Karate und Kobudō. Das Publikum soll von den Darbietungen der vollendeten Meister tief bewegt gewesen sein und „genoss das hohe Niveau und die Unverfälschtheit der Ryūkyū-Kultur nach Herzenslust.“

Es folgt die Auflistung der Vorführungen:

Teil 1: Klassische Ryūkyū Musik

  • Kagiyade-fū
  • Kote-bushi
  • Agichikuten-bushi (Gesellschaft für klassische Musik nach dem Nomura-Stil, Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Musik nach dem Nomura-Stil, Genkoe-Gesellschaft des Afuso-Stils, Gesellschaft zur Erhaltung der klassischen Musik nach dem Tansui-Stil und Genkoe-Gesellschaft des Muramatsu-Stils)

Teil 2: Ryūkyū-Tanz

  • „Tanz des alten Mannes“ (Rōjin odori): Shimabukuro Kōyū
  • „Zei-Flaggen-Tanz“ (Zei odori): Kin Ryōshō
  • „Hurra Takadēra“ (Takadēra manzai): Takamine Zenkei
  • „Die Amakawa Weise“ (Amakawa bushi): Yamada Sadako
  • „Die Hatoma Weise“ (Hatoma bushi): Higa Sumiko
  • „Die Inoha Weise“ (Inoha bushi): Majikina Yoshiko
  • „Die Esa Weise“ (Esa bushi): Une Shinsaburō
  • „Amakawa als Herren- und Damengruppenvorführung“: Oyadomari Kōshō, Miyagi Nōzō
  • „Hurra Yaese“ (Yaese manzai): Tamagusuku Seigi

Teil 3: Karate

  • Karate Sansērui (36): Uechi Kan’ei, Lehrer des Uechi-ryū
  • Karate Sūpārinpe (108): Yagi Meitoku, Lehrer des Gōjū-ryū
  • Karate Kūsankū: Nagamine Shōshin, Lehrer des Matsubayashi-ryū
  • Karate Passai Dai: Chibana Chōshin, Lehrer des Kobayashi-ryū

(Anm.: Bei den Personen in Teil 3 handelt es sich um führende Mitglieder des im Mai 1956 gegründeten Okinawa Karatedō Renmei)

Teil 4: Kobudō

  • Gelenkhebeltechniken (tuiti): Higa Seitoku, Higa Kiyohiko, Onaga Taketoshi
  • Gelenkhebeltechniken (tuiti): Ameku Minoru, Nakama Takeshi
  • Sanchin von Matsumura Sōkon Sensei (Grundlegende Gelenkhebeltechniken): Tsuha Kōmei
  • Sanchin (Shuri-te): Uehara Seikichi
  • Chōun no Kon (Soeishi no Kon): Higa Keitoku
  • Wansū of Maeda Sensei from Tomari: Shimabukuro Zenryō
  • Stocktechniken (bōjutsu) Tokumine no Kon: Nakazato Jōen
  • Gojūshiho of Hanashiro Chōmo Sensei: Nakama Chōsō
  • Stocktechniken (bōjutsu) Shirotaru no Kon: Izumigawa Kantoku
  • Sicheltechniken (kama no te): Soken Hōhan
  • Sēsan von Ōshiro Chōjo Sensei: Nakachi Seitoku
  • Stocktechniken (bōjutsu) Sakugawa no Kon: Higa Seitoku
  • Nīsēshī of Kuniyoshi Shinkichi Sensei: Nakamura Shigeru
  • Schildtechniken (tenbē): Nakaima Kenkō
  • Sicheltechniken (kama): Irei Matsutarō
  • Sai: Kina Shōsei

(Anm.: Bei den Personen in Teil 4 handelt es sich um Mitglieder des Okinawa Kobudō Kyōkai, dem 1961 durch Higa Seitoku gegründeten Verband)

Oben erwähnter Herr Irei war zu jener Zeit 85 Jahre alt und Herr Kina war 83 Jahre alt.

In der Literatur wird dazu gesagt, Karate und Kobudō zählten „auf diese Weise in Okinawa als Folklorekünste (minzoku geinō 民俗芸能), die sich neben der klassischen Musik und dem Ryūkyū-Tanz durchgesetzt haben.“

Warum dauerte es nach dieser Vorführung mehr als 30 Jahre, bis Karate und Kobudō 1997 als immaterielles Kulturgut designiert wurden? Wie oben erwähnt, wurden Karate und Kobudō damals als Folklorekünste (minzoku geinō 民俗芸能) verstanden. Viele der traditionellen kämpferischen Dorfvorführungen (mura-bō) wurden bereits seit den 1980ern als immaterielles volkstümliches Kulturgut (mukei minzoku bunkazai 無形民俗文化財) designiert. Wahrscheinlich erschienen diese Kategorien vielen Beteiligten als nichtzutreffend oder unpassend, oder es gab Konflikte zwischen Gruppierungen mit unterschiedlichen Ansichten.

Die Designation eines Kulturgutes kann auf nationaler, präfekturaler oder kommunaler Ebene erfolgen. Für Karate und Kobudō wurde 1997 dazu auf präfekturaler Ebene die Designation „Immaterielles Kulturgut“ (mukei bunkazai) auf dem Gebiet des Karate und Kobudō geschaffen. Laut Gesetz kann sich dies ausschließlich beziehen auf „menschliche Fähigkeiten von hohem historischem oder künstlerischem Wert, wie Schauspiel (Noh, Bunraku, Kabuki, Kumiodori), Musik und handwerkliche Techniken (Keramik usw.)“. „Sport“, „Kampfkunst“, „Selbstverteidigung“ und dergleichen sind keine Kategorien innerhalb des „Gesetzes zum Schutz von Kulturgütern“, und im Übrigen auch keine Kategorien in der Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Es ging und geht also offenbar erst einmal darum, eine passende Kategorie zu finden.

Am „Tag des Karate“ 2014, verkündete die Regierung von Okinawa ihre Absicht, die formelle Anerkennung des Karate als Immaterielles Kulturerbe bei der UNESCO anzustreben. Daraufhin entstanden 2016 zwei Institutionen: Die “Gesellschaft zur Erhaltung des Okinawa Karate and Kobujutsu als immaterielles Kulturgut der Präfektur Okinawa” und die “Abteilung für Karate-Förderung der Präfektur Okinawa”, letzteres ein politisches Planungsbüro, welches auch das lokale Karate-Netzwerk koordiniert und dem die Aufgabe übertragen wurde, „Okinawa Karate zu fördern, um in das immaterielle Kulturerbe der UNESCO aufgenommen zu werden.“ Auch das Okinawa Karate Kaikan hat die Aufgabe „die Aufnahme des Karate als immaterielles Kulturerbe der UNESCO“ voranzutreiben.

Da in der repräsentativen UNESCO-Liste keine Kategorie für Kampfkunst existiert, zielen die Verantwortlichen auf die Aufnahme des Karate in dem Bereich „gesellschaftliche Praktiken, Rituale und festliche Veranstaltungen“. Ein 2019 gegründetes Komitee von Karate-Experten verkündete „Ritual“ (gishiki) als Schlagwort für die Kandidatur und den Slogan „Der Geist des Friedens; Anbindung des Okinawa-Karate-Rituals an den UNESCO-Ring“.

Auch die JKA unterstützt die okinawanische UNESCO-Initiative, unterscheidet jedoch klar zwischen Okinawa und japanischem Karate, wobei traditionelles japanisches Karate in der Tradition des Bushidō verwurzelt sei (Nakahara Nobuyuki, bei einer Konferenz im Karate Kaikan 2017). Mit anderen Worten: Es gibt verschiedene Stakeholder und Bündnisse, jedoch auch Potential für unversöhnliche Konflikte.

Durch diese Entwicklungen, zu der sich noch zahllose persönliche Interessen privater Stakeholder gesellen, die im Windschatten dieser Offensive ihr Glück suchen, wird es schwierig bis unmöglich, die tatsächliche Geschichte und Bedeutung des Karate und Kobudō zu beschreiben. Es gibt einfach zu viele negativ belegte Wahrheiten, die diesen Kategorisierungen und den damit verbunden institutionellen und privaten Aktivitäten und dem erheblichen Lobbyaufwand in Öffentlichkeitsarbeit, Tourismus, Forschung, Schrifttum und neuen Medien diametral entgegenstehen. An dieser Stelle erscheint daher die Frage notwendig, inwiefern die Kenntnisse über die Entstehung, die Inhalte und die Entwicklung des Karate und Kobudō zu Gunsten einer Marketing-Agenda verfälscht werden.

Quellen (Auszug):

Eduardo González de la Fuente; Andreas Niehaus: From Olympic Sport to UNESCO Intangible Cultural Heritage: Okinawa Karate Between Local, National, and International Identities in Contemporary Japan. Seite 40 – 50. In: Traditional Martial Arts As Intangible Cultural Heritage. ICHCAP and ICM, 2020.

Präfekturarchiv Okinawa: Die Ära der Ryūkyū-Regierung, 1945 bis 1972.

Dokumente zur Information und Öffentlichkeitsarbeit von Kulturgütern – Materialien aus dem Besitz des Archivs der Präfektur Okinawa. 1964 – 1967.

Miyagi Tokumasa, Karate als immaterielles Kulturgut. In: Okinawa Karate Kobudō Jiten 2008, S. 9.

Quast, Andreas: Karate as an Intangible Cultural Property. May 28, 2016.

© 2021, Andreas Quast. All rights reserved.

This entry was posted in auf Deutsch, Postwar Okinawa Karate. Bookmark the permalink.