Nagamine Shōshin: In der Kata ist das Leben – Widersprüche in der Konzeption des Okinawa Karate

25. November 1995, Ryūkyū Shinpō

Am 08. November 1995 las ich in dieser Kolumne Herrn Nakazatos Artikel “Kata oder Kata ? Erwägungen über die Konzeption des Okinawa Karate”, ich bin jedoch bezüglich Herrn Nakazatos dort formuliertem Standpunkt gegensätzlicher Ansicht.

Herr Nakazato vertritt die Meinung, dass das Schriftzeichen für die kata des Karate “kata ” ist. Als Grundlage seines Standpunkts führt er an, dass in Okinawa für die kata des Karate seit alten Zeiten her das Schriftzeichen “kata ” verwendet worden ist, und nicht “kata “. Aus welcher Literatur dies stammen soll wünscht man sich zu erfahren.

Als nächstes führt er die Verwerfung des Schriftzeichens kata und dessen Änderung zu kata an, was vom Japanischen Karate Verband (JKF) in einem Rundschreiben bekannt gegeben worden sein soll. Dieses Rundschreiben wurde jedoch vom japanischen Ministerium für Erziehung und Unterricht veröffentlicht.

Als Vergleich mit dem erwähnten Vorgang der Änderung des Schriftzeichens zog Herr Nakazato Sprichwörter heran, nämlich “eine Verordnung jagt die andere”, bzw. “ein Befehl vom Morgen wird am Abend widerrufen”. Bereits vor zwanzig Jahren jedoch schrieb ich in meinem Buch das in Frage stehende Schriftzeichen als kata , und folge dabei auch heute noch keinesfalls blind den Meinungen anderer Leute.

Ferner zog Herr Nakazato die japanischen Wörterbücher Kōjien und Kokugo Jiten heran, woraus er entnahm, dass kata die Standardmethode zur schriftlichen Angabe in den kämpferischen Weg-Künsten (budō) und den darstellenden Künsten (geinō) u. Ä. sei. Demgegenüber beschreibe kata hingegen a) die äußere Erscheinung einer Form, b) die äußere Form im Gegensatz zur deren innerer Substanz oder Funktion, c) eine Form im Sinne einer Formsache, einer Formalität, einer äußeren Form.

Ich ermittelte dazu selber sorgfältig in Wörterbüchern, denen ich entnahm, dass kata standardisierten Verhaltensformen und Methoden in den kriegerischen Künsten (bujutsu) und bei Aufführungen (engei) entspricht, während es sich bei kata um eine oberflächliche, sich an die Form haltende Angelegenheit handelt, bei der die charakteristischen Merkmale aus der Form selber stammen und bei der kein individueller Charakter o. Ä. vorgesehen ist.

Mit anderen Worten, wenn kata des Allerwichtigsten entbehrt, für was für eine Sache soll ich es dann halten?

Herr Nakazato schrieb auch verschiedene Erörterungen bezüglich der Richtigkeit von kata und kata im Zusammenhang mit der Nihon Kendō Kata (Die kämpferischen Formen des japanischen Kendō) und der Nihon Jūdō Kata (Die kämpferischen Formen des japanischen Jūdō). Diese Nihon Kendō Kata und Nihon Jūdō Kata wurden im Jahre 1911 auf Anfrage des Ministeriums für Erziehung und Unterricht gegründet, von verschiedenen Schulen der Schwertkunst (kenjutsu) und der unbewaffneten Kampfkunst (jūjutsu), die noch aus der ausgehenden Tokugawa-Zeit stammten und damit einen großen Beitrag zur Leibeserziehung an den Schulen leisteten.

Kürzlich teilte das Ministerium für Erziehung und Unterricht dem Japanischen Karate Verband (JKF) gegenüber seine Besorgnis mit, dass die kata des Karate-dō und des Kobudō keine kata seien, sondern kata , was beim Training zu berücksichtigen sei, und des Weiteren, dass die Kreise des Karate und Kobudō Japans dabei seien, das Herz (kokoro) als die Essenz des Kriegerischen (bu) zu vergessen und stattdessen den philosophisch-moralischen Pfad (dō) popularisieren. Dies sollten wir uns in aller Bescheidenheit zu Herzen nehmen.

Zurück zum Hauptthema: Der allerwichtigste Grund, weshalb ich nicht kata , sondern kata verwende, liegt in dem Schriftzeichen kata selbst. Dieses Allerwichtigste liegt in dessen Bedeutung, sich durch Anstrengung zu entwickeln, während es einen Rückschritt bedeutet, das Herz (kokoro) zu verringern. Das Schriftzeichen kata transportiert dieses Gebot nicht.

Wörterbüchern entsprechend handelt es sich bei kata um charakteristische Merkmale, die daher stammen, dass man sich an die Form hält, was keinen individuellen Charakter beinhaltet. Dies ist nicht das Allerwichtigste an sich, sondern nur eine Angelegenheit, die sich aus dem Allerwichtigsten ableitet. Bei der Kopie eines Buches beispielsweise ist die physische Kopie lediglich substanzieller, materieller Herkunft, welche den wichtigsten inneren Teil, die Seele, nicht wiederzugeben vermag. Bei der Kultur der Überlieferung der verschiedenen Arten der Kriegskünste handelt es sich um dasselbe Prinzip: Nur aus dessen korrekter Weitergabe, unmittelbar durch einen Meister, und mit einer aus dem körperlichen Kontakt herstammenden Erkenntnis kann ein unverfälschtes Original erneut entstehen. Das Original ist keinesfalls durch Worte oder Schriftstücke lehrbar. Im Zen werden auch die Ausdrücke “furyū monji” (Erleuchtung kann nur durch unmittelbare Kommunikation von Herz zu Herz unterrichtet werden) und “kyōge betsuden” (Übermittlung von Lehren ohne Abhängigkeit von Sutras oder anderen Schriften, d. h., von Person zu Person) gelehrt. Diese Ausrücke bedeuten, dass ohne den Kontakt von Herz zu Herz eine unverfälschte Unterweisung nicht möglich ist.

Entsprechend sollte man sich auch in der Unterweisung in der traditionellen Kultur Okinawas auf die historische Tatsache besinnen, dass die Vereinheitlichung der japanischen kriegerischen Künste (bujutsu) hin zu den jetzigen kata der kämpferischen Weg-Künste (budō) die Quintessenz der modernen japanischen Kampfkünste (budō) auf eine höhere Stufe erhob. Dies ist die versteckte Logik hinter der Argumentation des Ministeriums für Erziehung und Unterricht. Die kata des Karate und Kobudō von Okinawa sind nicht kata , sondern kata . So lange ich lebe werde ich das Schriftzeichen kata beibehalten und lege mit festem Herzen das Gelübde ab, mich mit aller Kraft der Schaffung des prächtigen Mekka des Karate und Kobudō von Okinawa zu widmen.

Beitrag (Nagamine Shōshin), Naha-shi Makishi 3, 14, 1
Präsident des Seikai Matsubayashi-ryū Karate-dō Renmei
Vizepräsident des Okinawa Karate-dō

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