Über einen japanischen Sinn für Ästhetik und dessen Gestaltungsprinzipien

Über einen ästhetischen Sinn der Japaner (biishiki 美意識) zu sprechen, macht nur Sinn, wenn man sowohl die klassische wie auch die moderne Perspektive berücksichtigt. Denn mit der Einführung westlichen Denkens in Japan ab der frühen Meiji-Zeit (1868–1912) erfuhren auch die klassischen ästhetischen Ideale eine Neuformulierung. Tatsächlich begann in dieser Zeit, nach einer Phase der Ablehnung alles alten Japanischen, die Wiederentdeckung der eigenen Traditionen.

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Die Schönheit des Weißraums (yohaku 余白), Tuschmalerei 「枯木鳴鵙図」, Werk des Miyamoto Musashi 宮本武蔵.

Ausgehend von Mori Ōgais 森鴎外 (1862–1922) Lehnübersetzung des Begriffes „Ästhetik“ als shinbigaku 審美学 entstand über den Einfluß der westlichen Geisteswissenschaften die eigentliche Theorie der japanischen Ästhetik, die heute als bigaku 美学 bezeichnet wird. Bigaku bedeutet wörtlich nichts anderes als die „Wissenschaft der Schönheit“.

Mori studierte von 1884 bis 1888 Medizin in Deutschland, unter anderen bei Robert Koch und Max von Pettenkofer. Darüber hinaus beschäftigte er sich intensiv mit der europäischen Literatur, Philosophie, Kunst, Musik und Religion. Ab Juni 1886 lieferte sich Mori einen öffentlichen Disput mit dem aus Japan zurückgekehrten Geologen Heinrich Edmund Naumann, der erst im Februar 1887 endete. Ein Hauptargument in Naumanns Kritik war, dass Japan den Westen ohne ein tieferes Verständnis der Hintergründe kopiere und sich zugleich durch die Geringschätzung der eigenen Geschichte und Kultur ernsthaft selber schwäche. Eine ähnliche Vorhaltung finden wir bei Erwin Bälz, einem der akademischen Lehrer Moris, der sich erfolgreich für die Wiederaufnahme des Jūjutsu, Kyūjutsu und Kenjutsu als „einheimische Pflänzchen“ und im Gegensatz zu importierter westlicher Gymnastik stark machte.

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Gibt es also einen oder mehrere gemeinsamen Nenner zwischen klassischer und moderner Ästhetik, und wenn ja, welche? Kann man japanische Kultur und Ästhetik mit Begriffen beschreiben, die abendländischen Traditionen entlehnt sind?

Schönheit wird allgemein durch den Begriff bi 美 beschrieben. Bi als Wortbestandteil findet sich in zahlreichen Begriffen wieder, die aus zwei oder mehr zusammengesetzten Kanji gebildet werden (Komposita). Dies betrifft alle möglichen Lebensbereiche, vom Alltäglichen über Kunst, Menschen, plastische Chirurgie bis hin zur Kochkunst. Beispiele dafür sind:

  • biiku 美育 (ästhetische Erziehung),
  • migoto 美事 (wunderbar; wunderschön; prächtig),
  • bishitsu美質 (schöner Charakter; Tugend),
  • bijutsu 美術 (die schönen Künste) oder
  • bibun 美文 (elegante Prosa)
  • u.v.a.m.

Bigaku als „Wissenschaft der Schönheit“ entscheidet über die Antwort auf die Frage: was ist Kunst? Kulturhistorisch begründet unterscheidet sich japanische Ästhetik – und damit der Schönheitsbegriff als solches – von seinem westlichen Pendant. Was gilt in der japanischen Konzeption von „Schönheit“ als schön (bi 美) und was als hässlich (shū 醜)? Und gibt es weitere Konzeptionen japanischer Ästhetik?

001Der japanische Begriff der „Schönheit“ wurde bis vor kurzem lediglich innerhalb der Geisteswissenschaften erforscht. Heute folgt man darüber hinaus auch wissenschaftlichen Ansätzen innerhalb der Neurowissenschaften, der Psychologie, usw. Man kann sagen, dass die Schaffung von irgendetwas Schönem (utsukushii-mono うつくしいもの), um sich selbst und der das Ich umgebenden Umgebung einen Sinn in der Welt zu verschaffen, der menschlichen Natur universell zu eigen ist. Schaffung von Schönheit durchdringt die gesamte Menschheitsgeschichte und verbindet alle Kulturen. Trotzdem existieren unterschiedliche Wahrnehmungen für Ästhetik. Diese sind abhängig von Region und Klima, von Kultur und Geschichte, z.B. in Europa, Asien, Nord- und Südamerika, Ozeanien usw.

Der Sinn der Japaner für Ästhetik (nihonjin no biishiki) erschließt sich zum Teil über Vergleiche über die Vorlieben der Japaner bezüglich Stadtplanung, Design, Architektur, Dichtkunst, Tee-Zeremonie, Tusch-Malerei, Zen-Gärten, und nicht zuletzt den klassischen und modernen Bujutsu und Budō. Darüber können mit der „Schaffung schöner Dinge“ zusammenhängende Konzeptionen deutlich gemacht werden. Als Basiswerte dazu dient die bereits erwähnte japanische Konzeption von „Schönheit“ (bi) und darüber hinaus verschiedene japanische Gestaltungsprinzipien.

Der „Sinn der Japaner für Ästhetik“ bezeichnet die subjektive Perzeption von Schönheit durch Japaner aufgrund von Prinzipien und ästhetischen Theorien, welche die japanische Sichtweise gleichzeitig geprägt haben und dieser zugrunde liegen. Natürlich unterliegt die Wahrnehmung von Ästhetik und Schönheit individuellen Unterschieden, abhängig vom sozialen und demografischen Lebensumfeld. Ob Dinge in Reih und Glied aufgestellt oder nach dem Zufallsprinzip angeordnet sind empfindet jede Person unterschiedlich als schön, oder nicht. Die eine Person findet Schönheit in der Asymmetrie von Architektur oder Malerei, eine andere Person in der Symmetrie derselben. Ein anders Beispiel sind verschiedene Vorlieben für Takt oder Tonalität in der Musik.

001Für den Japaner liegt das Augenmerk der westlichen Ästhetik auf der vom Menschen geschaffenen Schönheit, in der Symmetrie und in prächtigen Verzierungen. Im Gegensatz dazu wird der japanische Sinn für Ästhetik als „nicht-Konflikt mit der Natur“ charakterisiert. In Tempeln, Schreinen und Gärten sieht man eine Vermischung mit der Natur, die Reproduktion von Verfallenem, ja, selbst der Tod ist mitunter gegenwärtig. Grundtöne dabei sind eine an Ärmlichkeit grenzende Bescheidenheit (wabi 侘) sowie die geschmackvolle Patina (sabi 寂), vulgo Einfachheit.

Ob das alles so stimmt oder eher Rechtfertigung als Recht ist sei mal dahingestellt.

Der wohl berühmteste Garten Japans jedenfalls, beschrieben als „Manifestation einer Unendlichkeit des Raums“, ist ein Garten ohne einen einzigen Baum und ohne einen einzigen Grashalm. Er besteht lediglich aus Sand, Kieseln, und Felsgruppen. Die Rede ist von dem japanischen Garten des 1499 in Kyōto gegründeten Zen-Tempels Ryōanji 龍安寺.[2] Ein Reiseführer sagt dazu:

„Seine Einfachheit ist so extrem, dass sie von Nichtfachleuten nicht vollständig begriffen werden kann. Jegliches auf die Gesamtwirkung des Gartens überflüssig wirkende wird verworfen. Des Gärtners Design ist fertig, wenn es nichts mehr gibt, das er aus dem Garten entfernen könnte.“

Der „Schick“ (iki 粋) als Ausdruck der Ästhetik wurde durch am Kulturleben teilnehmende Städter in der späten Edo-Zeit begründet. Die von dem nō-Dramatiker Zeami stammende Formulierung „Verborgen ist die Blüte“ (hi sureba hana 秘すれば花) kann man so interpretieren, dass der Drang zur Selbstdarstellung unterdrückt und eben gerade auf diese Weise Schönheit und Harmonie geschaffen werden. Dies ist Ausdruck des typisch Japanischen, welches sich in Kultur, Alltagsleben, und Geschichtsauffassung manifestierte. Dazu kommt, dass die Natur selbst einen großen Einfluß auf das ästhetische Empfinden ausübt: die Wahrnehmung von Schönheit richtet sich danach, ob das Objekt im Einklang mit der Natur steht.

001Innerhalb der komplexen Geschichte Japans spielten ästhetische Ideale und kulturelle Praktiken eine zentrale Rolle für die Entwicklung kultureller Identität. Solche Ideale und Praktiken verpflanzten sich über interinstitutionelle Netzwerke, zum Beispiel zwischen den Institutionen der darstellenden Künste, der Tee-Zeremonie, der Poesie, und den „Wegen des Kampfes“. Die neo-konfuzianistisch geprägte Selbstkultivierung zum Wohle des Ganzen – vom Individuum zur Gemeinschaft – bildete dabei einen erkennbaren, gemeinsamen Nenner. Dieser ist noch heute in den sogenannten Wegdisziplinen zu finden: Teezeremonie (chadō 茶道), Kalligraphie (shodō 書道), Bogenschießen (kyūdō 弓道) usw. transportieren alle dieses moralische Wegprinzip des 道. Den Wegdisziplinen gemein ist ferner die asketische Übung (shugyō 修行). In den budō kennt man beispielsweise das einfach als taihen 大変 (eine ernste, beschwerliche Sache) bezeichnete Postulat. D.h., ist ein Training in den budō nicht taihen, entspricht es dann noch der japanischen Vorstellung? Und wenn nicht, ist es dann tatsächlich noch budō?

Die japanische Ästhetik kann als Ergebnis der Anwendung einer Reihe von Gestaltungprinzipien beschrieben werden. Auf diese Gestaltungprinzipien, in variierenden Parametereinstellungen, stützen sich viele der kulturellen und ästhetischen Normen Japans bezüglich dessen, was als geschmackvoll oder schön empfunden wird, und was nicht.

2014 sah ich ein Kommentar auf Facebook, wo ein Japaner ein Foto kommentierte mit

„Hah! Er bekommt nur einen hässlichen Pokal!“

Bei dem Foto handelte es sich um einen deutschen Nationalspieler und der „hässliche Pokal“ war der Fifa-World Cup in seinen Händen. Für den Nationalspieler hingegen war das vielleicht das Schönste was überhaupt existieren kann.

Was sind jetzt die Unterschiede?

001In japanischer Selbstwahrnehmung liegt der theoretische Unterschied zur westlichen Ästhetik darin begründet, dass westliche Gesellschaften Ästhetik als Philosophie betrachten. In Japan hingegen wird sie als integraler Bestandteil des täglichen Lebens empfunden.

So oder so ähnlich jedenfalls scheint es die japanische Kulturwelt zu sehen.

Auch scheint die klassische japanische Philosophie den ständigen Wandel als grundlegende Realität zu begreifen. Man verweist dazu auf den buddhistischen Ausdruck der Flüchtigkeit allen Irdischen (mujō 無常), in dem kein Platz sei für die Vorstellung eines stabilen „platonischen“ Reiches jenseits dieser irdischen Flüchtigkeit.

In jedem Fall beinhaltet die Konzeption japanischer Ästhetik heutzutage zahlreiche Gestaltungsprinzipien und -ideale. Viele davon sind klassischer Art, andere sind modern, und wieder andere sind von anderen Kulturen beeinflusste räumlich-zeitliche Mischformen. Dadurch ergibt sich die spezifische Charakteristik einer doppelten Differenz, die sich auch auf andere mit Japan-Studien zusammenhängende Sachverhalte übertragen lassen mag, namentlich:

  • Eine Differenz zwischen japanischer Klassik und Moderne, und
  • eine Differenz zwischen originalen japanischen Konzepten und Theorien und solchen, die aus dem Westen (oder anderswo) herstammend in Japan implementiert wurden.

001Den obigen Theorien entsprechend nimmt die japanische Ästhetik für sich in Anspruch, ein breiteres Spektrum abzudecken als ihr westliches Pendant. Nach allem ergeben sich ganz offenbar terminologisch-konzeptuelle Lücken, die eine analoge Übersetzung der japanischen Begriffe und Konzeptionen von Ästhetik und Schönheit scheinbar verbieten. Um diese Lücken zu schließen wäre die detaillierte Analyse der japanischen Gestaltungsprinzipien und –ideale nötig. Dies wäre für diesen Blogpost aber ein bisschen zu umfangreich. Darüber hinaus sind viele davon bekannt und lassen sich leicht googlen. Einige der ästhetischen Prinzipien sollen jedoch in Folge in dieser Kategorie kurz und beispielhaft vorgestellt werden.

 

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