Mündliche Traditionen über Higa Seiko und Higaonna Kanryō

Folgende Artikel stammen aus dem Werk „Karate Denshin-roku (Jōkan), 2005: 46–51“ von Kinjō Akio. Übersetzung von Andreas Quast.


Überlieferer mündlicher Tradition von Generation zu Generation: Über Higa Seikō Sensei

Entry on Higa Seiko, from Okinawa Daihyakka Jiten 1983. Photo: A. Quast.

Entry on Higa Seiko, from Okinawa Daihyakka Jiten 1983. Photo: A. Quast.

Etwa 1955, zur Zeit meiner Immatrikulation an der Universität von Ryūkyū, begann ich mit der Erforschung von Wissenschaft, Technik und Theorie des Karate-dō. Dies erschien mir jedoch bald unmöglich umzusetzen und ich hatte das Gefühl, gegen eine riesige Wand anzurennen. So geriet ich in eine verzweifelte Lage. Dies lag daran, dass kaum brauchbare Literatur als Referenzmaterial existierte.

Als ständiger Gast in der Bibliothek der Ryūkyū-Universität und vielen anderen großen Bibliotheken durchforstete ich zahlreiche Büchersammlungen, doch trotz meiner Nachforschungen konnte ich keine wertvollen Quellen zum Karate finden. Selbst wenn ich etwas über die Geschichte des Karate fand, waren diese Quellen außerordentlich fragmentarisch und kurz, fast alle nur 5 oder 6 Zeilen lang. Auch war deren Inhalt nichts Neues für mich.

Deshalb begann ich damit, mündlich überlieferte Traditionen über das Karate zu sammeln.

Die wertvollsten und konkretesten Informationen innerhalb dieser Sammlung mündlich überlieferter Traditionen erhielt ich von Higa Seikō vom Gojū-ryū, einer Autorität der damaligen Karate-Welt.

Zu jener Zeit eröffnete Higa Sensei gerade ein Gōjū-ryū Karate Dōjō, welches sich gegenüber der heutigen Grundschule von Itoman befand. Nach dem Training stellte ich ihm Fragen über Karate und lauschte vertieft seinen Belehrungen. Seine Erzählungen waren sehr wertvoll und bilden ein erstklassiges Forschungsmaterial zum Karate.

Higa Senseis Vater hieß Higa Seishū 比嘉世秀. Was den ehrenwerten alten Herren Higaonna Kanryō 東恩納寛量 betrifft, der das Naha-te von Fuzhou in der Küstenprovinz Fujian in China aus nach Okinawa überlieferte, war Higa Seishū nicht nur ein entfernter Verwandter, sondern auch ein Freund Higaonnas. Manchmal trafen sie sich und während gesellig Sake eingeschenkt wurde, erzählte Higaonna über seine Erinnerungen an Fuzhou in China und an sein Training des Kenpō. Higa Seikō, damals noch in seiner Jugendzeit, saß dabei dicht an der Seite seines Vaters und hörte außerordentlich interessiert ihren Diskussionen über das Kenpō zu. Dies ist der Grund, weshalb er von Meister Higaonna eine so reichhaltige und konkrete persönlich überlieferte mündliche Tradition erfuhr.

Was Meister Higa Seikōs mündlich überlieferte Traditionen betrifft haben zwei Personen eine detaillierte Überlieferung von ihm erhalten. Diese zwei waren Higa Seikōs Lieblingsschüler, der verstorbene Ishimine Chōshin 伊志嶺朝信 Sensei, und mein Senpai, der Meister der Akupunktur und Moxibustion, Higa Saburō 比嘉三郎.

In seiner Jugend widmete Ishimine Sensei all seine Zeit und Energie dem täglichen Training und dem Studium bei seinem Lehrmeister Higa Seikō Sensei. In der Vorführung der Kata namens Sūpārinpē – welche in der Sprache von Fuzhou Sopārinpai ausgesprochen wird – war er tatsächlich derartig geschickt, dass ihm unter den Karateka des Gōjū-ryū jener Zeit niemand das Wasser reichen konnte. Ich glaube, dass es um 1953 nur etwa fünf bis sechs Karateka gab, die eine brauchbare Sūpārinpē  ausführen konnten.

Photo: A. Quast.

Photo: A. Quast.

Ishimine Sensei gab mir leidenschaftliches Training im Karate und er war nicht nur mein Karate-Lehrmeister, sondern auch meine Cousin. Und Ishimine Sensei erbte auch eine Kopie des aus Fuzhou in China überlieferten „Okinawa-den Bubishi 沖縄伝武備志“, ein Buch alter kämpferischer Aufzeichnungen, welches von den besten Schülern des Gōjū-ryū wie einen Schatz gehütet wurde.

Zu jener Zeit war ich Oberschüler und konnte weder Inhalt noch Bedeutung dieses Manuskripts verstehen, kopierte es jedoch in sorgfältiger Weise und bewahre es bis heute auf. Dieses Buch alter Überlieferungen ist eine hervorragende schriftliche Quelle und sehr hilfreich bei der Enträtselung des Karate-dō.

Ishimine Senseis Schüler sind Ishimine Yasuichi 伊志嶺泰一 (Direktor des Ryūkyū Karate-dō Gōjū-ryū Kōbukan 琉球空手道剛柔流興武會 in Urasoe), der in Miyako lebende Uechi Riki 上地力, Kashima Tsuneo 嘉島常夫 (Direktor des Miyako Zenkenkan 宮古禅拳館), und Kuwae Atsushi 桑江厚氏 (Direktor des Shūmyōkan 衆妙館 in Yonabaru). Diese Personen erhielten dieselbe mündliche Überlieferung wie ich.

Erzählungen über Higaonna Kanryō, überliefert durch Schüler von Higa Seikō vom Gōjū-ryū

Entry on Higaonna Kanryo, from Okinawa Daihyakka Jiten 1983. Photo: A. Quast.

Entry on Higaonna Kanryo, from Okinawa Daihyakka Jiten 1983. Photo: A. Quast.

1. Der chinesische Lehrmeister des ehrenwerten Higaonna Kanryō wurde Tōrūkō トゥルーコウ genannt, oder Rūrū ルールー, oder auch Kāchingā Rūrū カーチンガールールー, oder auch Rūrūkō ルールーコウ. Welcher davon nun der richtige Name ist und wie sein wirklicher Vor- und Nachname lautete ist nicht bekannt. Auch die chinesischen Schriftzeichen seines Namens sind unbekannt.

Ich persönlich gebrauche hauptsächlich die Schriftzeichen „Tōryūkō 登龍公“ (ohne Rücksicht auf deren reguläre Bedeutung bzw. Lesung. Higa Seikō Sensei hat dies tatsächlich selber persönlich so geschrieben und dem Autor [Kinjō Akio] so zu dessen Schulzeit gezeigt).

2. Waishinzan und Tōrūkō waren in der chinesischen Küstenprovinz Fujian als zwei große Meister des Kenpō berühmt.

3. Waishinzan war ein Militäroffizier, und Tōrūkō war ein Lehrmeister der Kriegskunst der eine Schule in der Stadt hatte.

4. Tōrūkō stammte nicht aus Fuzhou, sondern kam aus einer anderen Gegend und war zugezogen. In Fuzhou befand sich seine Wohnung nah an einem Fluss oder See.

5. Waishinzan kam als Offizier des Geleitschutzes einer Investiturgesandtschaft (Sappōshi) nach Ryūkyū. (Anm. des Autors [Kinjō Akio]: laut Higa Seikichi Sensei ist es unklar, ob Tōrūkō ebenfalls nach Ryūkyū kam. Für den Autor [Kinjō Akio] ist dies ebenfalls zweifelhaft)

6. Der in China für den ehrenwerten Higaonna Kanryō verwendete Name und Spitzname sind unbekannt.

7. Nach seinem Eintreffen in Fuzhou besuchte Higaonna Kanryō als erstes Waishinzan und bat um Aufnahme in dessen Schule. Wegen Waishinzans Stellung als Militäroffizier war es ihm jedoch verboten, Privatpersonen zu unterrichten und so lehnte er ab. Stattdessen empfahl er Higaonna, ein Schüler Tōrūkōs zu werden.

8. In dem Hausaltar an der Frontseite von Tōrūkōs Trainingshalle befanden sich viele abgebrannte Räucherstäbchen.

9. In China arbeitete der ehrenwerte Higaonna Kanryō als Fährschiffer auf einem Fluss. (jedoch nur in der Anfangszeit, bis zu seinem Eintritt in Tōrūkōs Schule)

10. Nachdem Eintritt in Tōrūkōs Schule erhielt er erst einmal keinerlei Unterweisung, sondern half im Haushalt des Lehrmeisters und trainierte lediglich mit Geräten.

11. Während einer großen Überschwemmung ruderte Higaonna Kanryō mit einem Boot zu Tōrūkōs Haus und rettete dessen Familie. Als Tōrūkōs Tochter von den schlammigen Wassermassen hinfort gespült wurde, startete Higaonna – des eigenen Lebens ungeachtet – eine Rettungsaktion und rettete ihr das Leben. Higaonna Kanryō, dem Tod mit knapper Not entkommen, erzählte sein Leben lang seinen Schülern von seinen Erinnerungen an dieses Erlebnis.

12. Nachdem die Flut sich zurückgezogen hatte, sprach der Lehrmeister zu Higaonna:

„Dank Deiner verzweifelten Rettungsaktion wurden wir gerettet! Du bist ein Patron (Wohltäter) unserer Familie. Dir gebührt unsere aus tiefstem Herzen stammende Dankbarkeit. Deshalb gewähren wir Dir die gesamten Reisekosten für Deine Rückkehr nach Ryūkyū. Sage mir, wie viel Du benötigst“.

Darauf antwortete Higaonna Kanryō mit folgendem Wunsch:

„Verehrter Herr Lehrmeister! Ich kam zum Studium des Kenpō aus dem fernen Ryūkyū nach Fuzhou. Ich habe bislang geduldig durchgehalten, bis Sie, verehrter Herr Lehrmeister, mir Unterricht gewähren würden. Die Unkosten für die Rückkehr in die Heimat kann ich wohl selber tragen. Bitte gewähren Sie mir Unterricht im Kenpō“.

Seitdem war Higaonna Schüler im Hause des Meisters (uchi-deshi), der ihn in zahlreichen Geheimlehren unterwies.

13. Am Tage des Herbstvollmonds (am 15. Tag des 8. Monats oder am 13. Tag des 9. Monats nach dem Mondkalender) saßen die beiden Meister Tōrūkō und Waishinzan mit ihren Schülern zusammen bei einer Bootsfahrt. Dabei kam es zu einem Kampf zwischen Higaonna und einem von Waishinzans Schülern, einem Kämpfer mit Bärenkräften.

14. Um eine Entscheidung herbeizuführen beschlossen die beiden Meister einen Wettstreit der Kräfte sowie ein Kata-Wettkampf abzuhalten.

Higaonna Kanryōs schwalbenähnliche, behände Richtungswechsel des Körpers und Beinarbeit (hien 飛燕), seine taktische Positionierung für Angriff und Verteidigung (taisabaki), und seine unaufhörlichen flinken und harten Schläge sehend, erkannte der bärenstarke Kämpfer die gewaltige Überlegenheit Higaonnas gegenüber seinen eigenen Fertigkeiten. Und so folgte er dem Ratschlag seines Lehrmeisters, sich mit Higaonna zu versöhnen.

15. Higaonna Kanryōs Fertigkeiten waren so vortrefflich, dass er als stellvertretender Lehrmeister (naka-shishō 中師匠) des Meisters Tōrūkō tätig wurde.

16. Eines Tages reichte Higaonna bei seinem Meister die Bitte ein, in seinen Heimat zurückkehren zu dürfen. Der Meister gab die Anweisung:

„Ich bin bereits ziemlich in die Jahre gekommen und kann das Training nicht mehr durchführen. Wenn du das Training hier einige Jahre weiterführst und so einige Nachfolger hervorbringst, kannst du danach in deine Heimat zurückkehren“.

17. Einige Jahre später, zur der Zeit von Higaonnas Rückkehr nach Okinawa, schenkte ihm sein Lehrmeister als Erinnerungsstück einen von einem Schwert abgeschlagenen Speergriff. Dabei sagte er sagte zu Higaonna:

„Dieser Speerschaft wurde mir in einer Schlacht an der Front durch die Schwertkunst eines starken Feindes abgetrennt. In dieser Entscheidungsschlacht bin ich dem Tod nur mit knapper Not entkommen. Daher waren die Erinnerungen daran mein ganzes Leben hindurch mit diesem Gegenstand verbunden. Nun schenke ich dir diesen Speerschaft als Erinnerungsstück, auf dass du ihn schätzest und sorgsam hütest“.

18. Zum Zeitpunkt der Rückkehr in seine Heimat war Higaonnas Lehrmeister Tōrūkō bereits sehr alt, und sein Augenlicht hatte sehr nachgelassen. (Diese Info stammt aus einer Unterhaltung mit Miyazato Ei’ichi Sensei, einem der herausragenden Schüler von Meister Miyagi Chōjun)

19. Was Higaonna Kanryōs Naha-te betrifft, handelt es sich dabei um das Kenpō von Tōrūkō, in welches Letzterer Boxtechniken sehr vieler Stile aufgenommen hatte.

20. Der Prototyp der grundlegenden Form Sanchin, wie sie der ehrenwerte Higaonna Kanryō in seinen frühen Tagen in Okinawa lehrte, war wie folgt:

– Es gab keine geschlossenen Fäuste, alles wurde mit offener Hand ausgeführt.

– In Sanchin stößt man, ohne zurückzuhalten („unaufhörlich“) und schnell mit Nukite zu, und zieht die Hand dann wieder in die typische Sanchin-Haltung zurück.

– Der Klang des Atemgeräusches in Sanchin ist kaum hörbar. Wenn der Nukite in die typische Sanchin-Haltung zurückgenommen wird, dann wird manchmal ein scharfes, kurzes Atemgeräusch abgeben.

– In seinen späten Jahren veränderte sich Higaonnas Trainingsmethode der Sanchin ein wenig: die schnellen Tsuki wurden nun langsam ausgeführt.

21. Miyagi Chōjun Sensei ging zum Zwecke des Teehandels nach Fuzhou, China. Nach seiner Rückkehr in die Heimat, fragte er den ehrenwerten Higaonna Kanryō:

„Dort drüben (in Fuzhou) machen sie bei der Sanchin Atemgeräusche in der Art hāhā und fūfū, die sich anhören wie das Zischen einer Riesenschlange! Wieso ist in deiner Sanchin nicht eine solche Atemmethode? Warum ist das so?“

Der ehrenwerte Higaonna antwortete auf diese Frage:

„Deren ist original, unsere ist original!“

Daraufhin fragte Miyagi Chōjun noch einmal:

„Wenn das der Fall ist, würdest du mir bitte die Atemmethode lehren, mit der man so ein Geräusch hervorbringt?“

Dies entschied der ehrenwerte Higaonna auf der Stelle mit der Antwort:

„Ihr seid gegenwärtig zu jung dafür!“

Photo: A. Quast.

Photo: A. Quast.

22. Nach dem Tod des ehrenwerten Higaonna begann Miyagi Chōjun Sensei Unterricht als Karate-Lehrer an der Handelsschule zu geben. Ab etwa dieser Zeit veränderte er die Technik der Sanchin Stück für Stück. Er änderte die offene Hand bei den Tsuki und Uke der Sanchin in geschlossene Fäuste, ferner stieß er nach einiger Zeit heftige Atemgeräusche aus, die etwa wie kahatt oder hatt klangen, und schließlich veränderte er die grundlegende Form Sanchin zu der heutigen Gōjū-ryū Sanchin.

23. Der ehrenwerte Higaonna Kanryō war ungelehrt (d.h. er war Analphabet), deshalb existieren keine Aufzeichnungen von ihm.

24. In China konnten nur sehr reiche Personen Kenpō studieren, das heißt, die Unterrichtsgebühren waren sehr hoch. Auf diese Weise die Technik zu lernen, indem hohe Unterrichtsgebühren bezahlt wurden, nannte der ehrenwerte Higaonna Hanchin-ti 販賃手(ハンチンティ). (Anm. des Autors [Kinjō Akio]: Hanchin-ti hat die Bedeutung von Handels-Karate, Geschäfts-Karate, Karate zum Geldmachen. Dies ist eine Tatsache!)

24. Higa Seikō Sensei berichtete:

„Der ehrenwerte Higaonna meisterte eine so große Anzahl an Techniken, weil er als Schüler im Haus des Meisters diente (uchi-deshi), also kein gewöhnlicher Schüler war“.

Obiges sind die mündlichen Überlieferungen von Higa Seikō Sensei, auf Basis derer einige der Rätsel der überlieferten Geschichte des Karate-dō konkret aufgehellt werden können.


Biblio:

Kinjō Akio: Karate Denshin-roku (Jōkan). Genryū-gata to Denrai no Nazo o Toku. Eizō Furoku. Tōkyō, Champ 2005. 金城昭夫:空手伝真録(上巻)。源流型と伝来の謎を解く。映像付録。東京、チャンプ 2005。

Bilder aus:

Okinawa Daihyakka Jiten Kankō Jimukyoku: Okinawa Daihyakka Jiten (Großenzyklopädie von Okinawa). Gekan: na – n. Okinawa Taimusu-sha, Naha 1983. 沖繩大百科事典刊行事務局編:沖繩大百科事典。下巻‐ナ-ン。沖繩タイムス社、那覇1983。

© 2016, Andreas Quast. All rights reserved.

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