Über den Gusan

19spricht man vom Okinawa Kobudō, fällt hier und da der Begriff des Gūsan. Der Gūsan ist eine ganz bestimmte Stockwaffe. Es ist nicht viel darüber bekannt und man kann es vielleicht eine Nischen-Methode nennen. Im westlichen Verständnis handelt es sich dabei um einen mittellangen Stock, der in Okinawa auf spezifische Weise als Selbstverteidigungsmethode überliefert worden ist. Da nichts Genaues bekannt ist, wird üblicherweise davon ausgegangen, dass es sich dabei um so etwas wie den japanischen Hanbō oder handelt, und dies ist nicht ganz verkehrt.

Uema Jōki (1920-2011), der verstorbene Gründer des Shorin-ryū Shubukan Uema Dōjō auf Okinawa, mit einer Kata unter Verwendung des Gūsan. Die hier verwendeten Gūsan sind natürlich gewachsene Stöcke.

Uema Jōki (1920-2011), der verstorbene Gründer des Shorin-ryū Shubukan Uema Dōjō auf Okinawa, mit einer Kata unter Verwendung des Gūsan. Die hier verwendeten Gūsan sind natürlich gewachsene Stöcke.

Über die Verschriftung ausländischer Begriffe

Technische Begriffe, für die es keine einheimischen Namen gibt, werden in Japan mit dem Lautsystem des Katakana verschriftet. Man sieht dies überall, wo Namen und vor allem technische Begriffe oder Bezeichnungen verwendet werden. Ein Beispiel ist der japanische Begriff für Brot, pan パン, welches sich aus dem Spanischen ableitet.

Leuchtreklame mit Katakana.

Leuchtreklame mit Katakana.

In Okinawa werden Begriffe ausländischer Herkunft ebenfalls mittels Katakana gegeben. Im Bereich der Kulturgeschichte ist es wichtig zu verstehen, dass im Verlauf der Geschichte zahlreiche ausländische Begriffe in die okinawanische Sprache übernommen wurden, wobei sich deren Aussprache veränderte. Sie wurden dann zu okinawanischen Wörtern, schriftlich wiedergegeben in Katakana.

Handelte es sich dabei um Wörter chinesischen Ursprungs, wurden dabei jedoch zum Teil die ursprünglichen Schriftzeichen vergessen, und damit ging auch die Referenzierung zu deren ursprünglicher Bedeutung verloren.

Die Rekonstruktion der ursprünglichen Schriftzeichen

In manchen Fällen gelingen verhältnismäßig einleuchtende Rekonstruktionen. In anderen bleibt die Frage nach dem korrekten Bedeutungsinhalt offen.

Als Beispiel kann man die Karate-Kata „Shisōchin“ anführen: Obwohl es dazu verschiedene Schreibweisen in sino-japanischen Kanji gibt, die nicht nur die phonetische Aussprache „Shisōchin“ wiedergeben, sondern auch deren Bedeutung definieren, ist es bis heute nicht klar, ob diese tatsächlich den ursprünglichen Bedeutungsinhalt widerspiegeln. Zu den verschiedenen existenten Schreibweisen von „Shisōchin“ sagte mir Hokama Tetsuhiro, 10. Dan Karate Kobudō und Kurator des ersten Karate-Museums auf Okinawa, dass alle existierenden Versuche, die phonetischen Aussprache von „Shisōchin“ mittels sino-japanischer Kanji schriftlich zu rekonstruieren, verkehrt seien. Fakt ist, dass bereits die erste schriftliche Erwähnung von „Shisōchin“ im Jahre 1867 in Katakana getätigt wurde.

Oder ein bekannteres Beispiel: Jeder hat schon von den Kata namens Heian gehört. Dies wird als Friede, Stille oder Eintracht interpretiert, oder aber as Referenz an den kaiserlicher Hof der Heian-Zeit (794–1185). Als Funakoshi jedoch seine ersten Bücher veröffentlichte, wurde der Name als Pinan gegeben. Dabei wurde die für ausländische Begriffe verwendete Schreibart Katakana benutzt. Auf Okinawa hießen diese Kata immer Pinan. Die Herkunft dessen ist wiederum der chinesische Ausdruck Ping’an 平安, d.h.:  wohlbehalten, gesund und munter, ohne Unfall, ohne Zwischenfälle.

Ähnlich verhält es sich mit dem okinawanischen Begriff Gūsan.

Gūsan als okinawanisches Kompositum

Gūsan ist ein Begriff aus der okinawanischen Sprache. Man kann also versuchen, diesen Begriff erst einmal anhand eben dieser okinawanischen Sprache zu interpretieren. Als Kompositum lässt sich das Wort Gūsan demnach wie folgt interpretieren.

Aus der Vielzahl der homonymen Begriffe ergeben sich zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten.

Aus der Vielzahl der homonymen Begriffe ergeben sich zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten.

Die Silbe  kann man beispielsweise als „Freunde“ oder „Verbündete“ übersetzen. Für die Silbe San gibt es mindestens sechs verschiedene Interpretations-möglichkeiten. Man kann es in der Bedeutung „eine Opfergabe für die Götter zurückzulassen“ interpretieren. Die Silbe San kann aber gleichzeitig auch einen Stock bezeichnen, wenn auch einen, der speziell zum Verschließen einer Tür gedacht ist.

Aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten kann man sich dann eine Bedeutung zurechtdenken.

Gūsan im lexikalischen Sinne als Einzelwort

Anders als oben versucht, kann Gūsan auch als Einzelwort in seiner lexikalischen Bedeutung interpretiert werden. In diesem Fall bedeutet es einfach Stock oder Stütze, unter vergleichender Angabe des japanischen Wortes tsue 杖.

Weitere lexikalische Bedeutungen lassen auf eine kulturelle Verwendung hauptsächlich in Verbindung mit dem religiösem Glauben Okinawas schließen. Ein Beispiel ist der Dashichā-gūsan. Dies ist ein aus dem Holz der Dashichā (lat. Rubiaceae Randia canthioides) gefertigter Stock: Bei der Verkündung von Orakeln halten die heiligen Frauen Okinawas solche Dashichā-gūsan in der Hand. Er wird auch als „Exorzismusstock“ bezeichnet.

Zwei Gusan-uji in okinawanischem Hausaltar.

Zwei Gusan-uji in okinawanischem Hausaltar.

Ein weiteres Beispiel ist der Gūsan-ūji. Dabei handelt es sich um Stöcke aus Zuckerrohr, die als Opfergabe dienen. Beim Obon-Fest nach dem alten Kalender werden diese Stöcke an beiden Seiten des buddhistischen Hausaltars als Opfergabe aufgestellt. Dies hat etwas mit dem Glauben an die Rückkehr der Geister verstorbener Ahnen zu tun, deren Errettung und schließlich deren Rückkehr in die Schattenwelt.

Gūsan in kämpferischen Sinne

Shikomi-tsue

Shikomi-tsue

Mir ist keine lexikalische Definition des Begriffes Gūsan als Fechtstock bekannt. Im Falle einer Umfunktionierung zur Selbstverteidigung kann man den Gūsan jedoch als Fechtstock interpretieren. In diesem Falle würde dem Gūsan eine spezifische Bedeutung zugeschrieben. Angelehnt an oben gegebene lexikalische Bedeutung wäre der Gūsan dann vergleichbar mit dem japanischen Jōjutsu, dem Shikomi-tsue und anderen kurzen bis mittellangen Fechtstöcken unterschiedlicher Ausprägungen. D.h. der Gūsan mag aus alltäglichen Gegenständen zu Gerätewaffen umfunktioniert worden sein. Und so findet er sich auch in einigen okinawanischen Schulen als verwendete Waffe, z.B. im Ryū’ei-ryū von Nakaima, dem Shōrin-ryū Shūbukan von Uema, oder dem Motobu Udundī.

Auch Nakamoto (2007) zählte den Gūsan zu den kampfmässigen Stockmethoden:

In den ländlichen Dörfern werden bei Festivitäten wie dem Eisā- oder dem Bon-Tanz zur Kurzweil Stocktänze aufgeführt, die Bō-odori genannt werden. In farbenfreudigem Ambiente werden dabei Techniken und Bewegungen recht übertrieben dargeboten, wobei der Bō oft weit vom Körper weg geführt wird. Vom Standpunkt der Kampfkunst aus betrachtet mus man deshalb sagen, dass dieser Stocktanz voller Blößen ist. In kämpferischen Bōjutsu hingegen, wie den Mēkata-Bō und anderer kampfmässigen Stockmethoden spricht man hingegen vom […] Gūsan, […] und dergleichen.

Gūsan in der Herleitung aus dem Chinesischen

Etymologische Rekonstruktionen des Begriffs Gūsan ergaben, dass er durch sprachliche Übernahme und Veränderung des chinesischen Begriffs Guaizhang entstand. Guaizhang bedeutet wörtlich Krücke oder Spazierstock und bezeichnet speziell einen Gehstock für ältere Leute. Mit diesem Gehstock ausgeübte Kampftechniken bzw. ein System derselben, werden als Guaizhang-shu bezeichnet. In den nördlichen und südlichen Stile Chinas gibt es nur noch wenige Vertreter dieser Art.

Als Material für diese Waffe dient ein bestimmtes Holz, nämlich das eines alten Glyzinienbaums (Japanischer Blauregen, lat. Wisteria floribunda). Daneben finden auch Rattan und Zuckerrohr Verwendung.

Bartitsu als Beispiel für eine Fechtmethode mit einem Spazierstock.

Bartitsu als Beispiel für eine Fechtmethode mit einem Spazierstock.

Nakaima Kenri vom Ryūei-ryū erlernte das Damo-guai – der Stock des Bodhidharma – in der Gegend von Fujian, bevor er in seine Heimat zurückkehrte. Entsprechend dieser Sichtweise, wurden Guaizhang beziehungsweise dessen Kurzform Guai in Okinawa zu Gūsan korrumpiert, und zwar in der speziellen Bedeutung als Fechtstock. Solche Fechtmethoden mit Spazierstöcken gibt es im Übrigen weltweit und diese sind historisch. Schon bei den alten Ägyptern wurden ähnliche Stocklängen verwendet und in nicht allzuferner Vergangenheit findet sich das Bartitsu als Beispiel für eine Fechtmethode mit einem Spazierstock. Es gibt zahlreiche weitere.

  • Nebenbei bemerkt: Obwohl auch der chinesische Begriff Guaizhang ein Kompositum ist, kommt man hier zu einem völlig anderen Ergebnis als in obigem Abschnitt Gūsan als okinawanisches Kompositum. Dies ist die Crux mit der Rekonstruktion.

Resümee

Im Jigen-ryū werden geeignete Äste von bestimmten Baumsorten abgesägt und zugeschnitten.

Im Jigen-ryū werden geeignete Äste von bestimmten Baumsorten abgesägt und zugeschnitten.

Wann der Begriff Gūsan aber nun erstmals in Okinawa auftauchte, bleibt ebenso unklar wie dessen ursprünglicher Bedeutungsinhalt. Ob nun als beliebiger Begriff für verschiedene Stöcke des alltäglichen Lebens, ob als religiöse Opfergaben, als Exorzismusstöcke der Priesterinnen, oder als Fechtstock; Ob als indigenes Wort oder als Ableitung aus dem chinesischen Guaizhang: Diese Frage lässt sich bislang nicht beantworten.

Im kämpferischen Sinne jedoch bezeichnet der Gūsan nichts anderes als einen zum Fechten verwendeten Stock etwa von der Länge eines Spazierstockes. Dementsprechend lassen sich unendlich viele Anwendungen aus dem Jōjutsu, dem Hanbōjutsu und anderen herleiten.

Uema Jōki (1920-2011), der verstorbene Gründer des Shorin-ryū Shubukan Uema Dōjō auf Okinawa, mit einer Kata unter Verwendung des Gūsan. Die hier verwendeten Gūsan sind natürlich gewachsene Stöcke.

Uema Jōki (1920-2011), der verstorbene Gründer des Shorin-ryū Shubukan Uema Dōjō auf Okinawa, mit einer Kata unter Verwendung des Gūsan. Die hier verwendeten Gūsan sind natürlich gewachsene Stöcke.

Vermutlich wurden die Stöcke für den Gūsan aus der Natur gewählt und ohne aufwendige Fertigungs-methoden hergestellt. Als Uema Jōki (1920-2011), der verstorbene Gründer des Shōrin-ryū Shubukan Uema Dōjō auf Okinawa, eine Kata unter Verwendung des Gūsan vorführte, handelte es such dabei um natürlich gewachsene und minimal nachbearbeitete Stöcke.

Das Shōrin-ryū Shubukan Uema Dōjō wird heute von Jōkis Sohn Uema Yasuhiro geleitet, der auch an der oben erwähnten Vorführung teilnahm.

Ähnlich dem Jigen-ryū kann man dazu Zweige von geeignetem Holz verwenden. Für den Gūsan bietet sich wie bereits erwähnt traditionell vor allem der Glyzinienbaum an, sowie Rattan oder auch Zuckerrohr. Haselnussbaum und viele andere Hölzer sind genauso geeignet.

Schaut man sich das Enbusen und die verwendete Techniken der von Uema vorgeführten Kata an, kann man erkennen, dass es sich grundsätzlich um dieselben Techniken wie beim Bōjutsu handelt; Auch wird er trotz seiner Kürze mit beiden Händen geführt ohne das ein Wechsel zu einhändiger Handhabung stattfindet. Neben den Techniken selber ist dies die auffälligeste Parallele zum Bōjutsu.

Dies soll keinesfalls heissen, dass dies immer und ausschließlich so war. Ganz im Gegenteil. Ich tendiere zu der Vermutung, dass Kata mit dem Gūsan eine modernere Kreation sind, die aufbauend auf älteren Tradtitionen geschaffen wurde.

Quellen

  • Kinjō Akio: Karate Denshin-roku – Gekan. Genryū-gata to Denrai no Nazo o Toku. Kaitei Zōho Ban, DVD Eizō Furoku. Tōkyō, Champ 2008.
  • Nakamoto Masahiro: Okinawa Dentō Kobudō. Gairyaku to Shurite-kei Karate Kobujutsu Tetsujin no Keifu. Yuishuppan 2007.
  • Video: Gūsan Kata. Uema Jōki und Mitglieder des Shōrin-ryū Shūbukan Uema Dōjō auf Okinawa.
  • Wörterbuch der Dialekte von Shuri und Naha (Terminologie-Datenbank).

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